Der Alltag eines begabten Kindes

(von Eugen Egner)


Nach dem Aufwachen am Morgen kann mein Körper nicht sofort sein richtiges Aussehen finden. Es laufen zahllose Metamorphosen mit hoher Geschwindigkeit ab (schneller Suchlauf). In diesem Zustand könnte ich unerkannt sonstwas tun, doch vor Müdigkeit bin ich zu gar nichts in der Lage. Nur die motorischen Funktionen meiner Physis sind notdürftig in Betrieb. Der Blick in den Spiegel ist jetzt unbedingt zu meiden. Wie gut, daß das Frühstück mich nicht sehen kann! Es gibt mir Kraft und Haltbarkeit, so daß sich mein Äußeres eine Stunde später stabilisiert hat. Nicht, daß ich vom Ergebnis begeistert wäre, aber es ist wenigstens etwas Konkretes.

Um elf kommt der Pfarrer, um mit mir in die Stadt zu fahren. Da er mich für ein begabtes Kind hält, will er mir einen Wasserfarben-Malkasten schenken. Die Anschaffungskosten wurden vom Magistrat in einer nächtlichen Sondersitzung bewilligt. Sicherlich hat dabei der Umstand, daß ich früher mit einem der Stadträte Musik gemacht habe, „eine Bedeutung gespielt“, wie ich jüngst jemanden bei einem Kultursender sagen hörte.

Am Abend erhalte ich während einer öffentlichen Veranstaltung im Rathaus das Förderetikett mit Hormon. Was ich denn nun mit dem neuen Malkasten Schönes malen wolle, fragt mich der Bürgermeister im Angesicht des sehr zahlreich anwesenden Publikums. Höre ich mich da tatsächlich antworten: „Ein Bild mit dem Titel ‚Bahnkörper, im Gleisbett liegend‘, Maße: neun mal fünfzehn Kilometer“? Man lacht und hält mich für harmlos, was ich beruhigend finde. Eigentlich habe ich nun alles erreicht, was sich innerhalb der Reichweite eines begabten Kindes befindet. Vorübergehend erwäge ich eine Selbsttötung aufgrund tiefster Zufriedenheit. Selbstverständlich bin ich zu jung, um die volle Tragweite solcher Gedanken erfassen zu können. Vom Tod weiß ich immerhin, daß er eine anerkannte Gefahr ist. „Und wie verhält es sich mit der Sexualität?“ fragte ich einmal den Pfarrer. Er erwiderte: „Einer der Hauptgründe für sexuelle Handlungen ist Ratlosigkeit.“ Die Wissenschaft scheint ihm darin Recht zu geben.

Über solche Probleme denke ich auf meinem Lieblingssitzplatz nach, einem alten Sessel, der im Heizkeller gegenüber einem Öltank steht. Hier versuche ich zudem heimlich, einen Roman zu schreiben. Leider komme ich nach den ersten dreitausend Seiten nicht richtig weiter. Die Handlung ist einigermaßen komplex, die Hauptfigur hält sich für eine große Anzahl Mäuse. Einmal fehlen allen die Köpfe, aber nur kurz. Wahrscheinlich werde ich sowieso keinen Verlag für so ein Buch finden, da kann ich genauso gut gleich mit dem Blödsinn aufhören. Die Künste sind eine Quälerei; Schreiben ist schwer, und mit dem Malen versaut man sich die Kleidung. Was mich noch aufrecht hält, ist das Versprechen der Regierung: „Für jeden zornigen Jungen ein zorniges Mädchen und umgekehrt“. Bei Haarproblemen kann der Staat allerdings nicht helfen. Und schon ist wieder ein Tag abgetan. Wie mein Bett nach mir verlangt! Man spürt es meilenweit.

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